Das Geheimnis der Kiste

„Also ich glaub's ja nicht!", ganz überrascht rufe ich Ilona herbei. "Das ist doch ein richtiger Schatz!" Eine große alte Blechkiste in einem ebenso alten Reisekoffer gibt ihren Inhalt nur mühsam preis: voll gepfropft mit alten Briefen, doch fein säuberlich und chronologisch geordnet - Beginn: Ende des Jahres 1913.

Blechkiste voller Briefe

„Das muss im Ersten Weltkrieg sein!", ist mein zweiter Ausruf. Und tatsächlich bestimmt Feldpost einen Großteil dieser Schatzkiste.

Enttäuscht meint meine Frau: „Das kann man ja gar nicht lesen!“, nachdem sie, neugierig geworden, den Inhalt einiger Umschläge entblättert hat. Noch kann ich sie beruhigen, denn von Briefen meiner Mutter (Jahrgang 1905) ist mir die altdeutsche Kurrentschrift einigermaßen vertraut.
Doch genaueres Hinsehen lässt mich dann ebenfalls zweifeln. Jeder Mensch hat bekanntlich seine ganz eigene Handschrift, erst recht in unterschiedlichen Situationen. Ein Brief aus dem Schützengraben ist mit einem, am Schreibtisch aufgesetzten, nicht zu vergleichen.
„Das macht tatsächlich richtig Arbeit, alles zu entziffern!"
Eine echte Herausforderung.
„Schau mal, Baldur, das alte Foto - und die schöne Ansichtskarte – hier echte Rosenblätter - und ein vertrocknetes Tannenreis –  ein Spitzentüchlein – ein Stück vom Ordensband!“, Ilona wird nicht fertig, die Briefinhalte zu durchstöbern. „Und  die vielen alten Briefmarken! Wie interessant wäre das hier für einen Philatelisten!“

Adressat der Briefe ist meine Großtante väterlicherseits – Jahrgang 1891.

Der Erste Weltkrieg jährt sich zum 100. Mal!

Da kommen die Briefe gerade recht. „Rentner haben zwar niemals Zeit“, doch das interessiert mich nun wirklich.
Warum hat der Kurt fast täglich der Gertrud geschrieben, oft genug mehrmals am Tag, auch als es noch Friedenszeit war und beide in Leipzig wohnten? Warum hat er keinen Absender auf den Briefen hinterlassen? Warum versteckte er die beschriebenen Ansichtskarten in Kuverts?

Eines ist gewiss: Die Zeit vor 100 Jahren, der Übergang von der gepriesenen „Guten, alten Kaiserzeit" zur leidvollen Kriegszeit aus der authentischen Sicht zweier Zeitzeugen mit ihren tagtäglichen Erlebnissen kann nur interessant sein. „Historisch wertvoll“ fällt mir als erstes ein. Aber auch eine „spannende Liebesgeschichte"? Oder Grabenkämpfe an der Front? Wie entwickeln sich die Lebensverhältnisse im Heimatland? Was schreibt er als Beteiligter an der und der Schlacht? Wo bekommt sie, wenn überhaupt, ihr nächstes Abendbrot her? Wo bleibt denn nur wieder die Post? Wie sieht evtl. die tägliche Begegnung mit dem Tod aus? Liegt er verwundet im Lazarett? Übersteht sie ihre Krankheit? Wie schläft er an der Front? Wie bekommt sie das Zimmer warm?

Fragen über Fragen! Sie könnten sich von Brief zu Brief ergeben und beantworten. Das muss einfach spannend sein!

„Weißt Du was?", kommt mir da ein Gedanke, „wir machen eine Homepage auf; ich entziffere ("übersetze") jeden Brief von vor 100 Jahren zum nächsten Datum und stelle ihn dann, zeitparallel, ins Internet."
Das wäre also „quasi live“. Bestimmt interessieren sich viele Leute dafür, am meisten sicherlich die Leipziger. Vielleicht auch die Nachkommen der damaligen Feinde im Schützengraben.
„Welches Datum hat der erste Brief?"
„Der 24.November 1913", stellt Ilona fest. „Eine schöne alte beschriebene Motivkarte im Briefumschlag: Lützows wilde Jagd. Und, schau doch mal, ein kleines Foto von Kurt in Uniform liegt auch bei."
„Na bitte, da haben wir sogar etwas zum Scannen, vieles in Farbe!"
"Aber es scheinen nur die Briefe von ihm an sie zu sein", gibt Ilona zu bedenken.
"Und dann so viele?!", ich greife mir einen mitten heraus und überfliege ihn. "Das ist richtig gut! Er geht auf ihren letzten Brief ebenso ein wie auf seine aktuellen Erlebnisse. Dadurch werden kaum Lücken ihrer Beziehung bleiben", hoffe ich.

Und so nahmen wir uns im Mai 2013 vor, diese Homepage zum 23. November fertig zu stellen, um am 24.11.2013 den ersten Brief frei zu schalten. Alle Folgenden würden dann das entstehende Archiv ständig erweitern.
Nichts soll textlich verändert werden. Die Klarnamen können evtl. der Ahnenforschung nutzen. Eventuelle Persönlichkeitsrechte Dritter sollten nach 100 Jahren nicht mehr betroffen sein.
Möglicherweise findet sich noch einiges mehr aus unserem Familienbestand, was textlich oder bildlich passt und die Authentizität erhöht. Das würden wir, entsprechend gekennzeichnet, hinzufügen.

Wir zwei sind ebenso gespannt wie hoffentlich jeder willkommene Leser.

 

 

Koffer mit K.R. 181 bedruckt
-------- Kurts Offizierskoffer -------- (15. Königlich Sächsisches Infanterie-Regiment Nr. 181)


Zerschossenes Bauernhaus gemalt
30m vor uns, hinter den Sandsackmauern der Feind
Erstürmung von Lille
Kurt mit seiner Kompanie?